Kennen und erkennen bei Calvin

Calvin”Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.”1 Ich will mit diesem Gedanken Wittgensteins anfangen. Bei Calvin können wir von Grenzen zweier Sprachen, Latein und Französisch, ausgehen. Glücklicherweise hat er sein Hauptwerk in den beiden Sprachen selber geschrieben. So ist es uns möglich zu vergleichen, in wie weit seine Muttersprache und die gelernte Sprache miteinandern übereinstimmen, und einen Einfluss der Muttersprache im Gebrauch der gelernten Sprache herauszufinden. Dies will ich mit einem Thema überprüfen, das als einen roten Faden im Denken Calvins vorgestellt wird, mit dem Thema cognoissance/cognitio.

”All who write about Calvin deal directly or inderectly with the problem of the knowledge of God,” alle, die über Calvin schreiben, haben direct oder indirect mit der Erkenntnis Gottes zu tun, behauptet Dowey im Vorwort seines Werkes ”The Knowledge of God in Calvin’s Theology”.2 Das Thema cognitio Dei kommt schon im Anfang der Institutio vor: Calvin eröffnet doch sein Hauptwerk mit dem Gedanken, dass die Summe aller Weisheit zwei Bestandteile hat, ”Dei cognitione et nostri”.3 Otto Weber hat den Satz ins Deutsch mit ”Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis” übersetzt.4 Battles hat es ins Englische mit ”knowledge of God and of ourselves”5 übersetzt, also mit einem Wort, das beinahe genauso weite Bedeutung hat als cognitio.

Es gibt, neben Doweys Monographie, auch etliche andere Bücher über Calvins Auffassung von der cognitio Dei.6 Dabei ist es erstaunlich, wie wenig die Forschung darüber sagt, was Calvin unter ’cognitio’ versteht.

Ein Durchlesen in der Institutio I und II zeigt, dass Calvin viel öfter das französische ’cognoissance’ bzw. ’cognoistre’ benutzt als das lateinische ’cognitio’. Battles hat die Stellen meistens mit ’knowledge’, Weber meistens mit ’Erkenntnis’ übersetzt.7 Man hat sowohl in Übersetzungen als auch in der Forschung eher epistemologische Aspekte der cognitio berücksichtigt, und andere Aspekte ihrer Bedeutung vernachlässigt oder sogar ganz ausser Acht gelassen hat.

In seiner Grundbedeutung ist das französische ’cognoissance’, in der heutigen Ortographie ’connaissance’, mit ’cognitio’ ins Lateinische zu übersetzen.8 Calvin aber eben benutzt in Paralelstellen des ’cognoissance’ bzw. ’cognoistre’ der französischen Ausgabe von 1560 viele andere Worte in der lateinischen Ausgabe der Institutio von 1559. Mal heisst es ’notitia’, mal ’agnitio’ oder ’intelligentia’, und es kommen Formen von Verben ’intellegere’, ’agnoscere’, ’noscere’, ’videre’, ’animadverto’, ’sentire’, ’innotescere’ und ’nescire’ vor. Die Vielzahl der von Calvin benutzten lateinischen Worten lässt ahnen, dass er mit dem französischen ’cognoissance’ auch anderes als nur die epistemologische Erkenntnis ausdrücken will.

Wir wissen, dass Calvin alle Ausgaben der Institutio zuerst im Latein, erst später im Französisch veröffentlichte. Er hat sein Hauptwerk mit grösster Wahrscheinlichkeit also auf Latein geschrieben. Es war für ihn eine gelernte Sprache, die allerdings eine 2000-jährige Entwicklung und Geschichte hinter sich hatte, und die sehr ausdrückungsvoll war und ist. Die Muttersprache Calvins, seine erste Welt, wenn wir das Gedanke Wittgensteins in Erinnerung haben, war damals noch eine relativ junge Sprache.

Für das folgende Hypothese habe ich gar keine Belege, es sei denn meine Intuition und meine Erfahrung. Ich merkte nämlich beim Schreiben dieses Vortrags, dass ich auf Deutsch denkte, und trotzdem war ich dessen bewusst, dass meine finnische Muttersprache mit ihrer Bedetutungswelt und vor allem mit ihren Bedeutungsnuancen mich ständig beeinflussen.

Ich nehme an, dass Calvin in seinem Denken die Welt des Französischen beeinflussen liess, wenn er die Institutio oder eine andere Schrift im Lateinischen verfasste. Er war ja, unseres Wissens, nicht bilingual in dem Sinn, dass er beide Sprachen als Kind in seinem alltäglichen Umfeld gelernt hätte, sondern das Französische war eindeutigt seine Muttersprache. So ist es verständlicher, dass er in seiner lateinischen Schriften sich in einer viel präzisischer Weise ausdrückt als in seiner Muttersprache. Er bringt die Bedeutungsnuancen seiner Muttersprache in Wortwahl des Lateinischen dar. Dabei ist es erstaunlich, dass Übersetzungen, wie die von Battles und Weber, wenigstens bei diesem Thema, das französische Wortwahl weitgehend folgen.

In meinem Vortrag im Calvin-Kongress vor vier Jahren habe ich gesagt, dass ich nicht weiss, ob es Studien darüber gibt, wie Calvin cognoissance versteht, ich aber den Eindruck habe, dass es um eine Relation geht.9 Weil das mein Ausgangspunkt ist, genügt es mir, diesbezügliche Bedeutungen des Wortes ’cognoissance’ vorzustellen. Das älteste mir zugängliche Wörterbuch der französischen Sprache war das von der L’Acadèmie Françoise von 1814. Da steht es, unter anderem: ”Connoissance, signifie aussi, L’habitude, liason, relation qu’on a avec quelqu’en. Il se dit aussi Des personnes avec lesquelles on a des liaisions ou des relations.”10 Das also neben vielen anderen Bedeutungsnuancen.

Damit ist aber mein Hypothese von cognoissance als Relation bei Calvin noch nicht bekräftigt. Im Folgenden sehen wir, in welchen Weisen er Stellen mit cognoissance auf Latein wiedergegeben hat. Ich habe etwa 120 Stellen aus dem I und II Buch der Institutio verglichen und werde einige davon Ihnen vorstellen.11

Es gibt Stellen, in denen Calvin cognoissance eindeutig in dem Sinn verwendet, dass es um Wissen geht. So z.B. in Iiii1:”quand nous cognoissons depuis le premier iusques au dernier qu’il y a un Dieu,” Latein ”ut quum ad unum omnes intelligant Deum esse,”. Also: ’wenn alle erkennen, wissen oder begreifen, dass es einen Gott gibt, u.s.w.’ Oder in auch in Iiii1 ”Dieu a imprime en tous une cognoissance de soymesme”; Latein ”sui numinis intelligentiam universis Deus ipse indidit,”; ’Gott hat in allen ein Wissen um Gott eingedruckt’.

In Ixi8 ”Ils cognoissoyent bien que celuy …, estoit Dieu:”; Latein ”Deum quidem esse noverant”. ’Sie wussten wohl, dass Gott sei’ in Weber-Übersetzung. Auch in IIxii1: ”mais pource que le sainct Esprit parlant par sa bouche cognoissoit nostre infirmité”; Latein ”sed quia Spiritus… infirmitatem nostram noverat”; das Hl. Geist weisst, dass wir schwach sind.

Es kann auch darum gehen, dass wir etwas aufmerken oder einfach sehen. So in Iv10: ”Car puis que nous cognoissons que les enseignemens que Dieu nous donne tant de sa bonté que de sa rigueur,”; Latein: ”Quum enim animadvertamus quae Dominus tam clementiae, tum severitatis suae specimina edit,”; ’Wenn wir aufmerken, dass Gott u.s.w.’ Und in Iii3 ”Car selon l’opinion de la chair il semble bien advis que l’homme se cognoisse lors tresbien”; Latein ”Tunc enim homo, iudicio carnis, probe sibi exploratus videtur,”; ’Da nämlich der Mensch, nach dem Urteil des Fleiches, sich genau überprüft sieht’.

In einigen Stellen gibt Calvin sein französisches ’cognoistre’ mit ’agnoscere’ wieder. So z.B. in Iii2: ”D’autre part il est impossible d’appercevoir clairement quel est Dieu, sans le cognoistre source et origine de tous biens:”; Latein ”Rursum nec ad liquidum perspicere ipsum potes, nisi ut bonorum omnium fontem esse et originem agnoscas;”; ’Gott als Quelle und Ursprung aller Guten anerkennen’. Oder in Ixiv3: ”car si nous desirons de cognoistre Dieu par ses oeuvres,”; Latein: ”quia si Deum ex operibus suis agnoscere cupimus,”; ’Wenn wir Gott durche seine Werke erkennen wollen’. Noch ein Beispiel, aus IIi3: ”La premiere consideration tend à cela, qu’il cognoisse quel est son devoir et office:”; Latein ”Huc tendit prior consideratio, ut quale sit officium suum agnoscat;”; ’… seinen Pflicht erkennen oder anerkennen.”

Wir haben schon gesehen, dass Calvin mit dem französischen ’cognoissance’ bzw. ’cognoistre’ ein Feld von Bedeutungen deckt, die er auf Latein mit vielen verschiedenen Worten weitergibt. Die oben vorgestellten Bedeuteungen stehen ganz klar auf dem Erkenntnis-Teil des Feldes. Die von Calvin am häufigsten in I und II benutzten Worte decken aber grössere Teile des Feldes. Es sind erstens ’cognitio’ b.z.w. ’cognosco’ und ’notitia’.

Der Leitsatz der Institutio mit ”Dei cognitione et nostri.” und seine Übersetzungen leiten leicht zu Aussagen wie auf die Wikipedia-Seiten über Calvin: ”The first statement in the Institutes acknowledges its central theme. It states that the sum of human wisdom consists of two parts: the knowledge of God and of ourselves” oder ”Die Frage, ob der Mensch Gott erkennen kann, war zum Problem geworden, auf das Calvin einging.”12

Dabei ist es interessant zu merken, dass das Wort ’cognitio’ wohl in der Rubrik des I auftaucht, nicht aber in der Rubrik des ersten Kapitels. Calvin schreibt sie mit ”Dei notitiam et nostri res esse coniunctas”. Allerdings hat er ’cognitio’ in der Rubrik des ersten Kapitels in Ausgaben von 1539 bis 1554 gehabt.13 In der Institutio von 1559 hat er ’notitia’ ebenfalls in der Rubrik von Iiii, iv und v. In der Rubrik von Iii hat er ’cognoscere’ und ’cognitio’, in IIix ’cognitus’, und in der Rubrik des II ’cognitio’.

’cognitio’ und ’notitia’ decken teilweise gleiche Teile eines Bedeutungsfeldes, aber sie sind miteinandern nicht deckunsgleich, keine Synonyme. Oft können sie mit dem anderen ersetzt werden, haben aber ihre eigenen Bedeutungnuancen. Das können wir z.B. mit einem Blick ins lateinisch-deutsche Wörterbuch sehen: ’cognitio’: Kennenlernen; Bekanntschaft; Erkenntnis, theoretische Kenntnis; Wiedererkennen; ’notitia’: Bekanntsein, Gekanntsein; Bekanntschaft, Kenntnis.

Für diesen Vortrag will ich einige Stellen mit ’notitia’ vorstellen, obwohl es noch mehr Stellen mit ’cognitio’ b.z.w. ’cognoscere’ gibt.

Ii2, ”Rursum, hominem in puram sui notitiam nunquam pervenire constat,”. Weber hat hier ’puram sui notitia’ mit ’sich selbst wahrhaft zu erkennen’ übersetzt. Als Voraussetzung für ’puram sui notitiam’ gibt Calvin das, dass der Mensch zuerst Gott anschaut und dann sich im Licht dieser Gottesschau betrachtet. Der Mensch kann also erst dann richtig wissen, wie er ist, wenn er sich so betrachtet, wie er vor Gott ist. In diesem Fall hat ’notitia’ also eine kognitive Betonung, und ist synonymisch mit ’cognitio’.

Eine ganz andere Betonung ist, meines Erachtens, in Iv9 zu finden. ”Atque hic rursus observandum est, invitari nos ad Dei notitiam, non quae inani speculatione contenta in cerebro tantum volitet, sed quae solida futura sit et fructuosa, si rite percipiatur a nobis radicemque agat in corde.” Weber hat hier ’Dei notitiam’ mit ’Wissen um Gott’ übersetzt, ich aber sehe ganz anders. Calvin erzählt ja, dass ’Dei notitia’ in uns Wurzeln schlägt im Herzen. Hier sehe ich ’notitia’ eben als eine Relation, und würde ’invitari nos ad Dei notitiam’ eher mit ’wir sind berufen, Gott so zu kennen’. Calvin schreibt doch, dass ’Dei notitia’ hier nich mit der Intellekt zu erfassen ist, sondern eben mit dem Herzen und sogas mit dem ganzen Leben, wenn wir es recht wahrnehmen, ’rite percipiatur a nobis’.

IIvi4 führt in die gleiche Richtung, allerdings mit ’cognitio’: ”hinc palam fieri quod nuper diximus, salvificam Dei cognitionem absque Christo non constare; ideoque ab exordio mundi ipsum fuisse propositum omnibus electis in quem respicerent, et in quo acquiesceret eorum fiducia.”; Französisch ”assavoir que la vraye cognoissance de Dieu ne peut subsister sans Iesus Christ. Et par ainsi que dés le commencement du monde il a osté mis en avant aux eleus, afin qu’ils eussent les yeux arrestez en luy, et que leur fiance s’y reposast.” Eine heilsbringde und wahre ’cognitio Dei’ ist unmöglich ohne Christus, auf den der Mensch schaut und auf den er seinen Vertauen setzt. Es reicht also nicht, dass er um Christus weiss. ’la vraye cognoissance de Dieu’, salvifica Dei cognitio setzt voraus, dass der Mensch in einer Vertauensrelation mit Christus steht und lebt.

Aus Zeitgründen führe ich jetzt keine weitere Belegstellen vor. Ich hoffe, dass es mir gelingen wird, mich weiter mit diesem Thema zu beschäftigen und vor dem nächsten Calvin-Kongress eine Monographie zu veröffentlichen. So kommen wir zu einigen Ergebnissen und Bemerkungen.

Wir haben also festgestellt, dass Calvin mit ’coinnoissance’ und ’cognitio’ manchmal nicht Erkenntnis sondern eine Relation meint, die man vielleich am Besten auf Deutsch mit dem Verb ’kennen’ ausdrückt. Es geht also nicht nur darum, dass der Mensch Gott erkennt, sondern auch darum dass er Gott kennt, mit Ihm in einem Verhältnis steht, das ihm tiefer berührt als auf der Ebene des Intellekts.

Daraus folgt, dass es nicht berechtigt ist, Calvins Denken so vorzustellen, wie es z.B. auf der deutschen Wikipediseite stand: ”Die Frage, ob der Mensch Gott erkennen kann, war zum Problem geworden, auf das Calvin einging.”14 Calvin Frage war eher, wie der Mensch Gott kennen kann. Erkenntnis, theoretisches Wissen um Gott ist eine Voraussetzung der wahren cognitio Dei, reicht aber nicht aus, wenn die cognitio wahr und heilsbringend sein soll. Und wenn der Mensch ein heilsbringende Verhältnis mit Gott haben will, muss er auch eine wahre cognitio sui haben. Das setzt voraus, dass er weiss, wie er ist, aber ist damit noch nicht vollkommen. Er soll noch aus dem Wissen die Konsquenzen leiten und sich als armer Sünder vor Christus stellen.

Wenn wir damit einverstanden sind, was Dowey in seinem Vorwort schrieb, also dass alle, die über Calvin schreiben, haben direct oder indirect mit der cognitio Dei zu tun, müssen wir die verschiedenen Aspekte der cognitio Dei wahrnehmen. Wie wir eben gesehen haben, ist sie nicht immer Erkenntnis, nocht immer ’knowledge’ als mehr oder weniger theoretisches Wissen.

Hier kehren wir zu Wittgenstein zurück. Wer auf Deutsch – oder Finnisch oder Latein – schreibt, hat eine viel weiter Wahl der Ausdrücken für Calvins connoissance als diejenigen, die auf Englisch oder auf Französisch schreiben.

”Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.”

  • Mein Kurzvortrag am 11. Internationalen Kongress für Calvin-Forschung in Zürich, am 24. August 2014

1Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, Tractatus logico-philosophicus, 1921, Satz 5.6.

2Dowey, Edward A, The Knowledge of God in Calvin’s Theology. Grand Rapids, Mich.,: Eerdmans, 1994, xvii.S

3Ii1; ”The first statement in the Institutes acknowledges its central theme. It states that the sum of human wisdom consists of two parts: the knowledge of God and of ourselves.” – http://http://en.wikipedia.org/wiki/John_ Calvin#Selected_works, gesehen 19.8.2014.

4Ii1 in: Unterricht in der christlichen Religion. Nach d. letzten Ausg. übers. u. bearb. von Otto Weber. 4. Aufl. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1986.

5Ii1 in: Calvin: Institutes of the Christian Religion intwo volumes. Edited by John T. McNeill. Translated and Indexed by Ford Lewis Battles. The Library of Christian Classics, vol XX. Philadelphia: Westminster. 1960.

6S. Calvin-Bibliographien

7Ich habe 60 Stellen aus dem I mit der o.g. Battles-Übersetzung verglichen, und ebenfalls 60 Stellen aus dem II mit der o.g. Weber-Übersetzung.

8Blaise, Albert: Dictionnaire Latin – Français des auteurs Chrètiens. Strasbourg – Paris. 1954. S. 164: ”cognitio 1. connaissance, science (cl.) / Rm 3.20 // connaissance, comprèhension (de la divinitè) …”

9Elonheimo, Kalle. Reformed theology in Calvin’s Catechism 1542. Calvinus clarissimus theologus. Papers of the Tenth International Congress on Calvin Research. Edited by Herman J. Selderhuis. Vandenhoeck & Ruprecht. 2012, 301-310. S. 309

10Dictionnaire de L’Acadèmie Françoise, cinquiéme èdition. Tome premier. A – K. Paris – Londres. 1814. S. 292.

11Alle Calvin-Zitaten stammen aus CO, vol. 3 für die französischsprachigen und vol 2 fürs Latein.

13S. OS III, XIV, XX.

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